Auf der Straße
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Da bin ich nun. Ich kann leider nicht sagen, dass ich alles verloren habe, denn ich besaß nie etwas.

War nie jemand.

Auf die Straße geboren, in den Regenpfützen gewaschen, von der abgemagerten Mutter ernährt. Jetzt

bin ich 15 Jahre alt, Vollwaise und bereits am arbeiten.

Jeden Tag von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang schlage ich mich mit anderen Kindern und hetze

durch die Straßen, um an die besten Autos zu kommen. Die meisten Touristen. Das meiste Geld.

Ich habe das Glück, wenn ich von so etwas überhaupt sprechen kann, dass ich eine der Größten und

Stärksten bin. Ich kann mich durchschlagen. Nur das zählt. Gestern hat sich ein Junge in dem

Gerangel schwer verletzt. Ob ich schuld daran war? Ich weiß es nicht und ehrlich gesagt interessiert

es mich auch nicht. Jetzt gilt es weiter zu machen. Um mich würde sich auch niemand sorgen oder

meine Verletzungen bedauern. Im Gegenteil. Einer weniger der dasselbe Ziel wie ich verfolgt.

Überleben. Also warum sollte er es besser haben?

Die Ampel schaltet auf Rot. Jetzt geht es los. Tritte, Schläge, Beschimpfungen. Ich halte das aus. Ich

komme durch. Ich renne zum erstbesten Auto. Einer von hier. Ich weiß sofort, dass der eh nicht viel

geben wird. Warum? Das weiß man eben.

Auf zum nächsten. Nur noch wenige Sekunden. Endlich ein Auto vollbesetzt mit Touristen. Ich klopfe

an die Fensterscheibe. Erst zaghaft dann lauter und aggressiver. Doch ist es wirklich Aggressivität

oder wohl eher Hilflosigkeit?

Ich versuche in ihre Gesichter zu schauen. Doch sie ignorieren mich. Ich verzweifle. Warum schaut

denn niemand? Dieses Gefühl. Diese Ignoranz. Du bist Ihrer nicht wert. Du bist für sie nur ein lästiger

Gegenstand, der die Aussicht auf die Stadt versperrt. Daran gewöhnt man sich nie. Und man wird es

auch nie. Auch nicht nach einem Leben lang auf der Straße. Ein tiefer Stich mitten ins Herz und mir

wird wieder einmal bewusst. Ich bin ein Straßenkind.

Mein Leben ist alles andere als spannend. Und alle vergangenen Höhepunkte sind wohl eher tiefste

Tiefpunkte.

Vor zwei Jahren - mehr oder weniger. Meiner Mutter ging es immer schlechter. Ich flehte sie an. Ich

schrie sie an. Sie dürfe nicht mehr in der Kälte am Straßenrad sitzen um Äpfel zu verkaufen. Doch sie

hörte nicht auf.

Ich sagte ich könne für uns sorgen. Sie lächelte jedoch nur traurig und meinte sie müsse nur noch ihr

Kind gebären und dann könnte sie endlich zu Gott. In sein Paradies. Als ob es für uns irgendwo ein

Paradies gäbe. Lächerlich. Ich war ihr wohl nicht so wichtig. Sonst wäre sie für mich gesund

geworden.

Ein paar Tage später brachte sie ein Mädchen zur Welt und verstarb noch bei der Geburt. Ich war

hilflos. Verzweifelt. Wusste nicht wohin und zu wem.

Meine kleine Schwester. Ich wollte sie beschützen. Sie war nun meine Familie. Ich hatte niemanden

außer ihr. Mein Vater starb noch vor meiner Geburt. Er wurde von einem Auto angefahren und auf der

Straße liegengelassen. Unbeachtet. Hilflos. Ignoriert. Auf sich allein gestellt. Wie wir alle.

Es war schön. Ja schön. Ich hatte jemanden, den es freut mich zu sehen. Und mit einem Baby auf

dem Arm waren die Leute viel großzügiger als sonst. Ich war glücklich. Ja glücklich. Ein Wunder, nicht

wahr? Wir hatten genug zu essen. Konnten unseren Schlafplatz vergrößern. Alles war gut. Für ein

Jahr. Viel zu kurz.

Dann begann es auch meiner Schwester schlechter zu gehen. Sie aß weniger, schlief schlecht, lachte

nicht mehr. Genau wie Mutter damals. Ich hatte Angst. Dass sie mich nun auch verlassen würde. In

das Paradies, auf das alle vergeblich hofften. Dabei existierte dies doch gar nicht. Das konnte ich nicht

zulassen. Ich musste es verhindern. Aber wie? Ärzte. Sie könnten meiner Schwester helfen. Sie heilen

und von ihrem Leiden befreien. Aber die Kosten. Das ganze Geld. Ich war so froh gewesen endlich

etwas Geld zu besitzen und dachte natürlich nicht daran zu sparen. Warum auch? Wer denkt denn an

morgen, wenn es heute ums Überleben geht?

Es musste jedoch schnell gehen, denn es ging meiner Schwester von Tag zu Tag schlechter.

Also tat ich es. Das, wovon jede Frau sprach. Das was die Frau dem Mann voraus hat. Sie kann sich

verkaufen. An reiche Touristen, welche im Urlaub nur ihren Spaß haben wollen. Widerlichen und

unmoralischen Spaß. Aber sie können es sich erlauben.

Es fiel mir nicht leicht. Ganz und gar nicht. Doch ich wusste, warum ich es tat. Warum ich den Ekel,

die Schmerzen, den Scham aushielt. Ich wollte ihr helfen. Sie hat mir geholfen. Sie brachte uns mehr

Geld und half mir über meine Trauer hinweg. Ich musste da durch.

Ich musste würgen und weinen gleichzeitig. Mir wurde schlecht und ich fühlte mich am ganzen Körper

beschmutzt. Doch war ich jemals sauber gewesen? Ich war mir nicht mehr sicher.

Wusste er, was er hier tat? Was er mir nahm? Sie war mein höchstes Gut und mein wichtigster Besitz.

Meine Jungfräulichkeit. Doch eine farbige Jungfräulichkeit ist doch wertlos.

Nach einer Ewigkeit hatte ich es hinter mir. Ich hatte das Geld. Und die Bestätigung, dass wir in der

großen weiten Welt nicht mehr wert waren als ein Gegenstand. Manchmal als Umweltverschmutzung

oder misslungene Sehenswürdigkeit, die die ganze Stadt verunstaltet oder eben einfach nur als

Befriedigung der eigenen Lust.

Ich musste los. Jede Sekunde zählte. Ich machte mich auf den Weg ins Krankenhaus. Meine

todkranke Schwester auf dem Arm. Ich betrat das riesige Gebäude. So etwas hatte ich vorher noch

nie von innen betreten. Es roch angenehm hier. Und die Leute schienen sich umeinander zu sorgen.

Ist dies etwas das Paradies, auf das jeder hofft?

Zu spät bemerkte ich sie. Die bohrenden Blicke. Was tust du denn hier? Was willst du? Du machst nur

alles schmutzig! Verschwinde und geh dahin, wo du herkommst. Auf die Straße. Doch auch wenn sie

mich anfangs verunsicherten, waren sie mir schließlich vollends egal. Es ging um meine Liebste. Mein

Ein und Alles. Meine Schwester.

Dort saß der Doktor. Er sah verwundert aus, als er uns sah. Doch er schien gebildet zu sein.

Was ist mit meiner Schwester? Wird sie leben? Helfen sie ihr doch! Ich kann nichts tun!

Er untersuchte meine Schwester flüchtig und teilte mir dann teilnahmslos mit, dass es für sie keine

Zukunft mehr gäbe. Und dass ich jetzt am linken Schalter bezahlen sollte.

Ich war sprachlos. Um mich drehte sich alles. Aber ich wusste es und ich war mir ganz sicher. Wäre

es ein weißes Kind gewesen, hätte er ihm geholfen. Aber wir sind nicht weiß, nicht rein und nicht

sauber. Wir sind Straßenkinder.

Meine Schwester starb nur wenige Tage später in meinen Armen. Ich konnte nicht einmal weinen. Ich

war am Boden zerstört und lebte nur noch vor mich hin.

Doch schon bald wurde es mir bewusst. Es war alles gewollt und bestimmt. Dass mir alle meine

Liebsten genommen wurden. Ich bin ein Straßenkind, das bereits seinen eigenen Körper verkaufte.

Ich bin wertlos für jeden. Ich konnte meinen Vater, meine Mutter und meine Schwester nicht bei mir

halten. Sie sind von mir gegangen. Haben mich alleine gelassen. Hier in dieser Welt. Meiner Welt. Der

Straße.

Ich habe es einfach nicht verdient glücklich und zufrieden zu leben. Ich muss leiden. Mein Leben muss

schrecklich sein. Das gehört sich so.

Das gehört zum Bild eines Straßenkindes. Und ich bin doch schließlich ein Straßenkind.

© Jannika Seidl, Kl.9, Deutsche Schule Kuala Lumpur, 1/2012